Christian Lippuner

Mut zum Frei-Raum

Laudatio von Martin Preisser, am 5. November 2005

„Lass uns das zeigen, was wir schon lange fühlen“, sagt Christian Lippuner. Das klingt leicht, braucht aber manchmal gehörigen Mut. Vor allem, wenn wir das Dunkle zeigen wollen. Schwarz wird es im Sommer dieses Jahres auf Christian Lippuners Bildern. Ist es wirklich nur schwarz? Was schimmert oder wie und wie abwechslungsreich schimmert es durch das Nicht-Schwarze hindurch? Wird nicht gerade im Schwarzen das Helle besonders interessant? Und: Wie kündigt sich das Dunkle in vorherigen Bildern schon an? Was fühlen wir im Moment, was fühlen wir schon immer, was begleitet stetig unser Fühlen? In Christian Lippuners Bildern finden beide Ebenen Eingang und Balance. Jeden Dienstag und Freitag, ein Jahr lang, ein Bild, das sofort in der Schublade verschwindet. Eines unabhängig vom anderen entstanden. Explorationen wollte sie Christian Lippuner, der 1947 in Grabs SG geborene, in Liechtenstein aufgewachsene und heute in Salenstein lebende Künstler, zuerst nennen und entschied sich dann für den „erdigeren“ Begriff „Ausforschungen“: Zeigen, was man fühlt, mit und auf ganz verschiedenen Materialien (das sind Papier, Zeitungspapier, Leinwand, Öl, Acryl, Pastell, Kreide, Grafit, Kohle, Aquarell) malend Innenräume betreten. Mutig und so spontan wie konsequent.

Mit seiner Jahres-Selbsterforschung malt Christian Lippuner dem Betrachter seiner Welten gleichzeitig Türen, gestaltet Einladungen zum eigenen Weiterforschen, nach und in unseren Innenräumen dann.
Pro Monat acht Werke, 96 insgesamt: Sie zeigen ganz verschiedene Räume: Naturräume, experimentelle… Christian Lippuner will sich auch da keine technischen, ästhetischen oder konzeptuellen Fesseln anlegen. Alle Bilder sind Momentaufnahmen im Fluss der Zeit (Zeit hat den Künstler übrigens bereits 1992 im Projekt „Uhrenkunst ART“, einer „Symbiose von Kunst und Zeit“ beschäftigt).
Die wöchentlichen „Ausforschungen“ sind oft gegensätzlich, ja sie springen zuweilen in ihren abwechslungsreichen Dimensionen. Gehen Sie dem Fluss der Wochen nach, aber wagen Sie beim Betrachten auch das Auge springen zu lassen, damit die Bilder Ihnen auch ganz neue Verbindungen anbieten können. Lassen Sie sich treiben vor dieser speziellen Installation, aber beissen Sie sich auch fest. Und spüren Sie dann den Schichtungen wie Abtragungen nach, lassen Sie sich verführen von den sensiblen Fährten und Spuren, die der Künstler legt, um Sie zu einer Reise in die spezielle Tiefe seiner Welten zu animieren.
Zeichenhaft – flächenhaft, beruhigend – aufregend, Natur- oder inneres Erleben: Gegensätzlich und vielgestaltet zeigt sich auf diesen „Ausforschungen“ Christian Lippuners Fantasie, stets aber stimmig und kohärent. Spüren sie auch in Gegensatzspannungen, im Wagnis der Ausdrucksvielfalt Christian Lippuners durchgehender und unverwechselbarer Handschrift nach.

Die 96 Bilder sind auch ein Anhalten der Zeit, ein Strukturieren eines sonst oft unklar wahrgenommenen Zeitvergehens. Sie bilden Fenster und Ausblicke im nicht Fassbaren des Vergehenden. Der Zyklus wirdzu einem gerafften Jahr, zur Essenz von Zeit. „Ich habe viel über mich gelernt“, sagt der Künstler. „Das sind Zeiten mit mehr Freiheiten, aber weniger Raum“, analysiert ein Bild eine gegenwärtige Bewusstseinslage. Dem stellt sich Christian Lippuner mit seiner Arbeit kompromisslos entgegen, er nimmt sich Raum. Nicht erst jetzt. Bereits 2001 und 2002 fiel der Bildende Künstler und Lyriker in Kreuzlingen und Konstanz mit grenzüberschreitenden Aktionen gegen Rassismus auf. Plakate und gesprayte Texte waren damals seine Mittel. Damals schaute Lippuner ganz bewusst auf die Zeit und ihre Umstände, hier reflektiert er jetzt über Zeit.

Christian Lippuner nimmt sich Frei-Räume, bezieht Stellung zum Innen und zum Aussen. „Ich bin ein Suchender“, hat Christian Lippuner mir einmal gesagt. Und seine Sätze, oft verknüpft mit einem nachdenklichen Humor, sind unprätentiös und unaufgeregt, verraten Haltung und eine eigene Sprache und Kontur. Egal ob er sie schreibt oder als Bildender Künstler umsetzt. Wie jetzt in diesen „Ausforschungen“. Stimmigkeit strebt der Künstler an, sie treibt ihn an, ob er malt, gestaltet oder Lyrik macht, ob er illustriert, die Lyrik und Prosa anderer in den feinen „Blättern aus der Hintergasse“ beispielsweise, oder ob er nachdenkt.

Christian Lippuner hat 96 Mal Innenräume betreten und zeigt sie uns jetzt. Ein mutiges Unterfangen. Nach den schwarzen Bildern hat der Künstler, befallen von einem seltenen und unheimlichen Virus wieder sprechen, laufen, den Pinsel halten lernen müssen. Was können wir aus diesen Bildern lernen, die mutige Mutmacher sind? Wieder sehen, wieder einmal spüren, uns an unsere Innenräume wagen, dem Spiel von Hell und Dunkel im Leben noch genauer auf die Spur kommen, über den Umgang mit Zeit reflektieren. Ist das selbstverständlich, solches aus einer Vernissage mitzunehmen? Beileibe nicht.

Begeben Sie sich mit Christian Lippuners „Ausforschungen“ als Führer auch auf Ihre eigene Forschungsreise. Eigentlich ist man ja fast enttäuscht, dass es nach 96 Tagen einfach abbricht. Denken Sie sich diese Reise einfach in die Zukunft projiziert weiter. Christian Lippuner wird diese „Aus-Forschungsreise“ auf seine Weise als Künstler weitergehen und uns hoffentlich an seinen Erkenntnissen dann erneut teilhaben lassen.

© Martin Preisser, Redaktor Kultur Thurgau (Tagblatt)
Vernissagerede in Ermatingen 5.11.2005